R. Rossfeld u.a. (Hg.): Der Landesstreik

Cover
Titel
Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918


Herausgeber
Rossfeld, Roman; Koller, Christian; Studer, Brigitte
Erschienen
Baden 2018: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 49,00
von
Adrian Zimmermann, Forschungsprojekt "Smallcons" c/o Bürogemeinschaft Kontext, Universitäten Lausanne und Amsterdam

Der 100. Jahrestag des Landesstreiks vom November 1918 hat im Herbst 2019 breites Echo gefunden. Neben kulturellen, medialen und politischen Gedenkprojekten sind auch mehrere wissenschaftliche Publikationen erschienen.1 Der vorliegende Sammelband ist in zweierlei Hinsicht die gewichtigste dieser Neuerscheinungen. Einmal im wortwörtlichen Sinn: Das Buch weist einen grossen Umfang auf und ist reich illustriert. Auch inhaltlich hat der Band Gewicht. Zur grösstenteils hohen Qualität der Aufsätze hat sicherlich beigetragen, dass knapp die Hälfte von ihnen von Forschenden stammt, die an zwei relevanten SNF-Projekten zur Schweiz im Ersten Weltkrieg (abgeschlossen 2017) und zum Landesstreik (laufend) beteiligt waren beziehungsweise sind.2

In ihrer Einleitung stellen Brigitte Studer, Roman Rossfeld und Christian Koller zunächst kurz und prägnant die Vorgeschichte und den Verlauf des Landesstreiks dar und skizzieren Stand und Perspektiven der Forschung, wobei sie letztere vor allem in stärker transnational und emotionsgeschichtlich ausgerichteten Ansätze ausmachen. Abschliessend arbeiten sie überzeugend den Kampf um «Politische Partizipation, soziale Sicherheit und Verteilungsgerechtigkeit» als zentrale und mittelfristig erfolgreiche Zielsetzung des Landesstreiks heraus. Die ein breites Themenspektrum abdeckenden Beiträge sind in fünf Teile gegliedert. Im ersten, mit «Soziale Not, Kriegsgewinne und Verteilungsfragen» überschriebenen Teil weist Maria Meier an Beispielen aus Basel nach, dass trotz gewisser nach Protesten der Arbeiterbewegung erzielten Verbesserungen die Versorgungslage bis zum Kriegsende und darüber hinaus prekär blieb. Reto Zitelmann thematisiert die bisher kaum beachtete wohnungspolitische Bedeutung des Landesstreiks. Matthias Ruoss zeigt auf, dass die Zeit unmittelbar nach dem Streik «die wesentliche Zäsur der Geschichte der schweizerischen Sozialpolitik» darstellte und einen neuen, auf den Gedanken der «Volksversicherung» setzenden «diskursiven Raum» eröffnete.

Im mit «Politische Inklusion und Exklusion, Partizipation und Repression» betitelten zweiten Teil beschäftigt sich zunächst Oliver Schneider mit dem für die Vorgeschichte des Landesstreiks grundlegenden, die üblichen demokratischen Partizipationsprozesse weitgehend ausschaltenden Vollmachtenregime des Bundesrats. Sebastian Steiner analysiert die Rolle der Militärjustiz im Ersten Weltkrieg in diesem Ausnahmeregime und bei der Strafverfolgung gegen das Aktionskomitee und Streikende nach dem November 1918. Dorothe Zimmermann widmet sich schliesslich den im November 1918 entstandenen und 1919 im Schweizerischen Vaterländischen Verband zusammengeschlossenen Bürgerwehren, Spitzelnetzen und Streikbrecherorganisationen.

Im dritten Teil «Gruppen-, klassen- und geschlechtsspezifische Differenzierungen» widmet sich Roman Rossfeld den bürgerlichen Reaktionen auf den Streik, wobei er die bisher nur wenig erforschte Rolle der Unternehmerverbände ebenso beleuchtet wie die «Revolutionsängste und Antikommunismus» in diesem Milieu. Katharina Hermanns Beitrag untersucht sowohl die wichtige Rolle der Arbeiterinnen in den Mobilisierungen vor und während des Landesstreiks als auch die trotz gewisser Sympathien für einzelnen Anliegen (Frauenstimmrecht, Lebensmittelversorgung) dem Streik ablehnend gegenüberstehenden bürgerlichen Frauenvereine. Der Beitrag von Juri Auderset und Peter Moser zeigt auf, dass bisherige Sichtweisen auf die Rolle der bäuerlichen Bevölkerung, welche diese als antirevolutionäres Bollwerk und von der Lebensmittelnot profitierende «Kriegsgewinnler » darstellten, die «komplexe Realität» dieser zwischen den Fronten von Arbeit und Kapital stehenden Gruppe zu wenig gerecht werden. Zugleich machen sie nachvollziehbar, wie «aus der ernährungspolitischen Kontingenz im Umfeld des Landesstreiks» in der Zwischenkriegszeit schliesslich eine gesellschaftspolitisch breit getragenen Agrar- und Ernährungspolitik entstehen konnte.

Thema des vierten Teils «Streikräume: Regionale Differenzierungen» sind Vorgeschichte, Verlauf und Folgen des Landesstreiks in der «Eisenbahnerstadt Olten» (Peter Heim), in Winterthur als landesweit wichtigstem Standort der Maschinenindustrie (Thomas Buomberger), in St. Gallen als einem hochindustrialisierten, aber nur eine relativ schwache Arbeiterbewegung aufweisenden Kanton (Max Lemmenmeier) und im Tessin (Andreas Thürer). Von den übrigen, überwiegend regionalgeschichtlich orientierten Beiträgen hebt sich Thürers Aufsatz ab, der mit seiner auch landesweite und transnationale Aspekte einbeziehenden Fragestellung zeigt, warum im Tessin – wohl noch stärker als in der im vorliegenden Band leider nicht behandelten Suisse Romande – die Mobilisierung zum Landesstreik von der Siegeseuphorie der dort einflussreichen ententefreundlichen Kreise stark erschwert wurde.

Schliesslich zeigt im fünften Teil «Narrative, Geschichtspolitik und Erinnerungskultur» Christian Koller wie «Fremdenangst und ihre Instrumentalisierung» bereits Jahrzehnte vor 1918 als Kampfmittel gegen Streikende eingesetzt wurde, woran auch die bürgerliche Gegenbewegung zum Landesstreik anknüpfte. Die Gleichzeitigkeit des Landesstreiks mit der verheerenden Grippe-Pandemie von 1918/19 und deren vor allem migrationspolitische Folgen untersucht Patrick Kury. Daniel Artho rekonstruiert akribisch die Entstehung und die Wirkungsgeschichte der bürgerlichen Fehldeutung des Landesstreiks «als gescheiterter Revolutionsversuch».

Neben diesen Hauptbeiträgen enthält der Band eine Reihe von ein- bis zweiseitigen «Fenstern» zur prekären Wohnsituation und Nahrungsmittelversorgung in Winterthur (Adrian Knöpfli), zur bürgerlichen Gegenmobilisierungen in Baden und Brugg (Patrick Zehnder), zur militärgerichtlichen Untersuchung des tödlichen Armeeeinsatzes in Grenchen (Edith Hiltbrunner), zum führenden Kopf der Tessiner Sozialdemokratie, Guglielmo Canevascini (Gabriele Rossi) sowie zur Repression gegen ausländische Militärflüchtlinge (Linda Leins). Weitere derartige Kurzbeiträge stammen von den Hauptautorinnen und -autoren selbst, die teils Einzelaspekte ihrer eigenen Beiträge hervorheben, teils Querbezüge zu anderen Aufsätzen herstellen – so etwa Arthos Kurzbeitrag zur «Angst vor einem ‘zweiten 1918’» als sozialpolitisches Argument, der im entsprechenden Hauptbeitrag von Ruoss eingeschoben wurde.

Zu bedauern ist, dass der Band nicht stärker auf derartige, einen fruchtbaren Dialog zwischen den einzelnen Beiträgen ermöglichende Elemente setzt. Auf eine Gesamtzusammenfassung haben die Herausgeberin und die Herausgeber leider verzichtet. Die kurzen Einleitungen in die unterschiedlich kohärent wirkenden Teile vermögen diese Lücke nicht zu schliessen. Die Kurzbeiträge sind im Inhaltverzeichnis nicht aufgeführt, was den Gesamtüberblick ebenso erschwert wie das Fehlen eines Registers. Eine weitere Schwäche, die der Band mit vielen geschichtswissenschaftlichen Publikationen teilt, ist der bisweilen unreflektiert wirkende Umgang mit Begriffen, bei denen es sich (wie bei «Revolution», «Klassenkampf» und «Antikommunismus») sowohl um Quellenbegriffe mit umkämpfter Bedeutung als auch um analytische Konzepte handelt. Im Aufsatz von Buomberger finden sich neben lesenswerten Ausführungen zum Grossstreik in der Winterthurer Maschinenindustrie vom Sommer 1918 auch fehlerhafte und tendenziöse Aussagen: Es ist unhaltbar, die Parteispaltung von 1920/21 als eine Folge des Landesstreiks zu bezeichnen und Buombergers Charakterisierung des Metallarbeiterführers Konrad Ilg hat weniger mit dem realen Handeln als mit dem in Polemiken innerhalb der Linken verbreiteten Zerrbild dieser vielschichtigen Persönlichkeit zu tun.

Trotz solcher Schwächen im Detail ist insgesamt ein vielfältiger und sehr lesenswerter Band entstanden, der neue Forschungsergebnisse zum Landesstreik und seinem Umfeld in einer wissenschaftlich hochstehenden und attraktiv gestalteten Form präsentiert. Damit wird der anlässlich des 50. Jahrestags in den Werken von Gautschi, Schmid-Ammann und Frey herauskristallisierte historiographische Konsens um den Landesstreik nicht in Frage gestellt, aber in wesentlichen Punkten präzisiert, erweitert und untermauert. Der Band wird für die weitere Forschung zum Landesstreik eine unverzichtbare Lektüre darstellen.

1 Patrick Auderset, Florian Eitel, Marc Gigase, Daniel Krämer, Matthieu Leimgruber, Malik Mazbouri, Marc Perrenoud, François Valloton (Hg.), La Grève générale de 1918. Crises, conflits, controverses = Der Landesstreik 1918. Krisen, Konflikte, Kontroversen, Zürich 2018 (zugleich Traverse 25/2 (2019) und Cahiers d’histoire du mouvement ouvrier, Hors-série); SGB (Hg.), 100 Jahre Landesstreik: Ursachen, Konfliktfelder, Folgen. Reader zur Tagung vom 15. 11. 2017, Bern 2018; Jean-
Claude Rennwald, Adrian Zimmermann (Hg.), La Grève générale de 1918 en Suisse. Histoire et répercussions, Neuchâtel 2018; Dominique Dirlewanger, Philippe Martin, Hans Ulrich Jost, Julien Wicki, La grève générale de 1918 – Matériaux pour l’enseignement, hg. v. Syndicat des services publics, Lausanne 2018.
2 https ://www.hist.unibe.ch/forschung/forschungsprojekte/krieg_und_krise/index_ger.html; https://www.fsw.uzh.ch/de/personenaz/tanner/forschungsprojekte/schweizweltkrieg1.html (22. 8. 2019).

Zitierweise:
Adrian Zimmermann: Roman Rossfeld, Christian Koller, Brigitte Studer (Hg.): Der Landesstreik. Die Schweiz im November 1918, Baden: Hier + Jetzt, 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 478-480.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 69 Nr. 3, 2019, S. 478-480.

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